
Stand: 01.12.2022 06:00
Wenn es im Alltag zu viel wird, ist manchmal die Flucht eine Option. Aber wo? Bringt der Flug überhaupt die gewünschte Erleichterung? Die Autorin Anne Köhler stellt diese Gedanken in den Mittelpunkt ihres neuen Romans.
Hempel ist eine hormonelle Langzeitstudentin. Er hat sich in sein unspektakuläres Leben in Berlin eingelebt. Am liebsten tut er gar nichts – außer vielleicht: seiner Freundin zu gefallen. Als sie ihn eines Tages nach seinem größten Traum fragt, erfindet er einen: am New York City Marathon teilzunehmen. Für ihn klingt das weit hergeholt genug. Er rechnet nicht mit weiteren Anfragen. Sie gibt jedoch nicht auf. Seine kleine Lüge nimmt Gestalt an.
Er hatte sich ein exorbitantes Paar Laufschuhe gekauft und begann viermal die Woche zu laufen, zunächst zügig, mit den besten Absichten, dann in einen Trab verfallen, der bald ein gemächliches Tempo erreichte, bis Hempel schlenderte und auf einer Bank saß unter dir Baum machte eine Pause. Wenn er von diesen gescheiterten Laufversuchen zurückkam, sah er immer müde aus, auch wenn es nicht seine Ausdauer war, mit der er zu kämpfen hatte, sondern sein innerer Schlingel.
Buchzitat aus “Nicht von der Welt”
Von seiner Freundin ermutigt, meldet sich Hempel zum Marathon an – untrainiert und verwirrt darüber, wie er aus dieser Lüge herauskommen soll. Wenn er nur entkommen könnte, denkt er.
„Out of the World“ erzählt von gescheiterten großstädtischen Existenzen
Auf witzige und verständliche Weise stellt uns Anne Köhler eine Handvoll gescheiterter Großstadtexistenzen am Rande des Zusammenbruchs vor, darunter: die Ziellose mit gekünstelter Leidenschaft, die Börsenmaklerin mit Burnout, die Mutter mit Gewaltphantasien. Soweit überrascht der Roman nicht gerade, aber der Ausweg, den der Autor für Hempel und die anderen Figuren wählt, ist faszinierend.
An Verzweifelte wird anonym ein Zimmerschlüssel weitergegeben. Für ein geheimes Hotel, das Zuflucht bietet. Idee von Architekt Valentin, der während seiner Studienzeit den Reiz von Verstecken für sich entdeckte. Er entwickelte die Idee mit Kommilitonen.
Sie wollten einen Zufluchtsort für Menschen schaffen, die eine Pause brauchten. Ein Ort, wo sie isoliert werden konnten, wo niemand sie erreichen konnte. Da sie frei vom Einfluss oder der Manipulation anderer denken konnten. Wo sie nicht mit Fragen unter Druck gesetzt oder zu Entscheidungen gezwungen wurden, zu denen sie nicht in der Lage waren. Ein Ort, an dem sie ohne Druck bleiben konnten, bis sie sich bereit fühlten, zurückzukehren. Oder bis sie sich entscheiden, aus ihrem eigenen Leben auszusteigen.
Buchzitat aus “Nicht von der Welt”
Fantasievoll und detailliert
Valentin hat die Utopie nun verwirklicht: Er ist Direktor des geheimen Hotels in Berlin, das von einem unbekannten Spender finanziert wird.
Der Autor zeichnet diesen Ort fantasievoll und detailliert. Man kann sagen, dass sie selbst einmal Architektur studiert hat. Im Inneren des Gebäudes befindet sich ein Labyrinth aus langen Korridoren, versteckten Durchgängen und getarnten Türen. Nur Mitarbeiter finden ihren Weg. Die Gäste sollten sich möglichst nie begegnen. Eine Bewohnerin von Linda zum Beispiel, die ihr Gedächtnis verloren hat, schätzt die Isolation.
Also ließ sie nach einer Weile alles los und hörte auf, ihren Aufenthalt im Hotel zu hinterfragen. Es wurde für alles gesorgt. Von da an hatte sich Linda dem Nichts hingegeben, verloren im Konflikt der Tage.
Buchzitat aus “Nicht von der Welt”
Eine fesselnde Grundgeschichte ohne großen erzählerischen Einsatz
Nicht alle Charaktere sind mit der Idee zufrieden. Als Hempel staut und auf andere Hotelgäste trifft, beschließt die Gruppe, sich gegenseitig aus diversen Notlagen zu helfen und sich auf eine Reise ins brandenburgische Land zu begeben. Die Geschichte wird manchmal etwas schlampig, zuletzt, wenn alle bunte Weihnachtspullover mit Tierbildern darauf tragen.
Die Reise brauchte das Buch nicht. Spannender wäre es gewesen, wenn der Autor seine wirklich geniale Idee um das Geheimnis des mysteriösen Hotels bis zum Ende verfolgt hätte. “Not of the World” – eine fesselnde Grundgeschichte, locker, leicht und liebevoll erzählt, die etwas mehr erzählerische Zielstrebigkeit hätte vertragen können.
Weitere Informationen
“Himmlisch”
von Anne Köhler
- Seitennummer:
- 352 Seiten
- Typ:
- Roman
- Verleger:
- DuMont-Verlag
- Veröffentlichungsdatum:
- 11.11.2022
- Bestellnummer:
- 978-3-8321-8264-9
- Preis:
- 24 €
Stichwort für diesen Artikel
Romane
