
BIn seiner Rede vor dem Bundestag war der Kanzler bemerkenswert klar: “Ideen und Wünsche, wie wir sie für eine Repräsentation im öffentlichen Dienst gehört haben, werden sich nicht erfüllen”, sagte er, und die SPD-Abgeordneten jubelten. „Mehr als zehn Prozent, sogar 15 Prozent – das lässt sich vernünftigerweise nicht nachweisen.“
Der Kanzler hieß nicht Olaf Scholz, sondern Willy Brandt und meinte damit den Tarifstreit zwischen einer Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes und Arbeitgebern vor genau 49 Jahren. Dies zeigt jedoch überraschende Parallelen im aktuellen Konflikt zwischen Ver.di und der Post.
Dann war die Inflation stark gestiegen, auch wegen der Energiepreise, dann forderte die Gewerkschaft auch 15 Prozent höhere Löhne und dann gab es auch noch Streiks. Doch 1974 endete der Streit mit einer Einigung, die in die Geschichte einging und fortan von vielen als Beginn der tiefen Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre angesehen wurde.
Im Herbst 1973 war der Ölpreis explodiert. Der Grund war auch damals Krieg, der Angriff arabischer Länder auf Israel. Die Vereinigten Staaten unterstützten Israel im sogenannten Jom-Kippur-Krieg, in dessen Verlauf die arabischen Länder ein Ölembargo gegen die Vereinigten Staaten verhängten und dessen Produktion stark drosselten.
Die Ölpreise vervierfachten sich daraufhin von 3 $ auf 12 $, was eine tiefe Rezession und einen starken Anstieg der Inflation verursachte. Im Dezember 1973 erreichte die Inflation in Deutschland 7,92 Prozent.
Aber anders als heute hat die Bundesregierung keine Hilfspakete geschnürt und die Gewerkschaften waren immer noch mächtige Institutionen. Sie forderten drastische Lohnerhöhungen.
Duellanten Genscher und Kluncker
Am 27. November hatten sie bereits eine 12,5-prozentige Lohnerhöhung in der Stahlindustrie erzwungen, und am selben Tag präsentierte die Vorgängerorganisation von Ver.di, der Verband Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV), seine Forderung: 15 Prozent Lohnerhöhung , mindestens jedoch 185 D-Mark und Urlaubsgeld von 300 D-Mark.
Vertragspartner war Innenminister Hans-Dietrich Genscher, dem klar war, dass solche Forderungen natürlich nie das Endergebnis darstellen würden. Sie werden eingerichtet, die andere Partei reagiert negativ, macht ein viel niedrigeres Angebot und schließlich wird irgendwo in der Mitte eine Einigung erzielt. So funktioniert das Spiel. Wichtig ist nur, dass man im Vorfeld keine roten Linien zieht, denn das führt nur zu einer Verhärtung der Positionen.
Bundesminister Hans-Dietrich Genscher (links) und ÖTV-Vorsitzender Heinz Kluncker
Quelle: pa/Lutz Rauschnick
Aber genau das hat Bundeskanzler Brandt mit jener Rede im Bundestag getan, als er öffentlich erklärte, dass die Endziffer zehn Prozent nicht überschreiten solle, und dies mehrfach wiederholte. Allerdings war klar, was ÖTV-Chef Heinz Kluncker erreichen wollte und musste, um mit seinen Kollegen mithalten zu können: mehr als zehn Prozent.
Die Gespräche zogen sich wochenlang hin, aber die Frontlinien wurden verschärft. Am Ende rief der ÖTV zur Abstimmung auf, bei der 91 Prozent für einen Streik stimmten. Ab dem 10. Februar 1974 wurden Ämter geschlossen, die Müllabfuhr eingestellt, keine Post mehr zugestellt, Züge und Busse eingestellt.
Es dauerte nur drei Tage, da hatte sich die Stimmung geändert und die öffentlichen Arbeitgeber waren müde. Sie boten nun eine elfprozentige Lohnerhöhung an, mindestens aber 170 D-Mark. Für die untersten Lohngruppen bedeutete dies sogar eine Lohnerhöhung von 17 Prozent. Der ÖTV nahm das Angebot an, Heinz Kluncker hielt sich für den Sieger.
Klopfen im Schritt
Doch was dann folgte, würde man heute wohl als „Shitstorm“ bezeichnen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ wertete das Ergebnis der Verhandlungen als „eine Niederlage für die Bürgerinnen und Bürger, für die Volkswirtschaft, für die Macht der Staatsführung (aller parteipolitischen Richtungen und auf allen Ebenen), für die Stabilität der Mark .” Arbeitgeber aus anderen Branchen wüteten ebenso wie die oppositionelle CDU/CSU. Aber auch innerhalb der SPD gab es Spaltungen, manche beklagten eine Verstrickung von SPD und Gewerkschaft zum Schaden der Wirtschaft.
Hauptkritikpunkt war ÖTV-Chef Kluncker. Er wurde zum Inbegriff der vermeintlich verderblichen Überlegenheit der Gewerkschaften stilisiert, was auch auf sein Äußeres zurückzuführen war: Er wog 150 Kilogramm und war 1,88 Meter groß, und allein schon deshalb dominierte er jedes Bild mit den Protagonisten auf der anderen Seite.
Tatsächlich waren die Tarifverträge Ende 1973/Anfang 1974 eine Zäsur, nicht nur beim ÖTV, auch andere Branchen standen ihren Abschlüssen in nichts nach. Sie alle lagen deutlich über Inflation und Produktivitätswachstum. 1974 stiegen die Einkünfte aus unternehmerischer Tätigkeit daher nur um 0,4 Prozent, während die Einkünfte aus Gewerbebetrieb um 7,9 Prozent zunahmen.
Unternehmertum wurde immer weniger wertvoll – wegen hoher Löhne, aber auch wegen hoher Energiekosten. Der einzige Ausweg war die Optimierung. Die Arbeitskräfte wurden radikal durch Maschinen ersetzt, als die Babyboomer auf den Arbeitsmarkt kamen und das Arbeitskräfteangebot stark zunahm. Die Folge war eine Massenarbeitslosigkeit, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zum Hauptproblem der Bundesrepublik werden sollte. Und der ÖTV-Tarifvertrag vom Februar 1974 galt vielen als Wegweiser, der diese Entwicklung einleitete.
Natürlich war er es nur teilweise. Schon in den 1960er-Jahren waren die Löhne schneller gestiegen als Inflation und Produktivität, und das nicht allein vom ÖTV getrieben. Aber 1974 war der Höhepunkt eines Trends, der sich danach nur sehr langsam umkehrte.
Der Vergleich von 1974 und seine Grenzen
Und heute? Natürlich sind die Parallelen frappierend: Hohe Inflation, hohe Energiepreise, 15 Prozent Lohnforderungen. Aber der Unterschied ist letztlich größer: Die Löhne in Deutschland steigen seit Jahren deutlich weniger als die Unternehmensgewinne, die Macht der Gewerkschaften ist äußerst begrenzt, und sie waren auch in den letzten Monaten, als die Preise explodierten, relativ zurückhaltend. Das wiederum lag auch an einem Hilfspaket der Regierung.
Und schließlich drängen Millionen zusätzlicher Arbeitskräfte nicht auf den Arbeitsmarkt, im Gegenteil. Die Zahl der Erwerbstätigen wird in den kommenden Jahren deutlich zurückgehen. Dies könnte den Arbeitnehmern in Zukunft jedoch mehr Macht verleihen und zu deutlich schnelleren Lohnerhöhungen führen. Insofern könnte auch diesmal ein Hochlohnabschluss bei der Post ein Wendepunkt sein.
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