Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte: “Feindbilder bieten Scheingewissheiten”


Interview

Stand: 04.11.2022 17:53 Uhr

Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, Drohungen und Graffiti: In Krisenzeiten liefern Feindbilder falsche Gewissheiten, sagte der Soziologe Zick in einem Interview. tagesschau.de. Aber das ist kein ostdeutsches Problem.

tagesschau. de: Drohungen, Hakenkreuz-Graffiti und zuletzt Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte in Bautzen und Groß Stromkendorf: Woher kommt diese Flüchtlingsfeindlichkeit?

Andreas Zicke: Die meisten Hassverbrechen ereignen sich an Orten, an denen Gruppen zuvor solche Verbrechen begangen haben. Das bedeutet, dass dort, wo sich eine rechtsradikale Kultur gebildet hat, das Potenzial bereits hoch war und nun deutlich gestiegen ist.

Studien in Bautzen zeigen zum Beispiel, dass sich dort Rechtsextreme und neorechte Milizen etabliert haben. Traditionslinien bilden sich, vom Rechtsextremismus in den 1990er Jahren bis zum rechtsradikalen Widerstand gegen Zuwanderung während der Flüchtlingskrise 2015, die auch das Thema Zuwanderung aufwarf.

In Krisenzeiten verknüpfen rechte Gruppierungen schnell Migration. Das hat in der Regel nichts mit Frust oder echter Benachteiligung zu tun, sondern mit nationalistischer Ideologie: Wessen Land ist wer und wer verdient wen? Wir dürfen nicht vergessen, dass die Feindseligkeit gegenüber Einwanderern oder Personen, die von rechten Gruppen als „Ausländer“ definiert werden, im Mittelpunkt der rechtsextremen Ideologie steht. Und Fragmente einer solchen Ideologie greifen auch im Rechtspopulismus ein. So können Bedrohungsmythen in Krisensituationen schnell aktiviert werden. Erschwerend kommt hinzu, dass national-abergläubische Ideen in der Mainstream-Gesellschaft schnell Fuß fassen.

tagesschau. de: Mit Corona, dem Krieg gegen die Ukraine und den rasant steigenden Lebenshaltungskosten überlagern sich derzeit viele Krisen. Welche Rolle spielt die soziale Stimmung?

Zick: Krisen sind Momente, in denen die Unsicherheit steigt, die Menschen nicht wissen, wohin die Reise geht, Rituale nicht mehr funktionieren. Das sind die Momente, in denen es radikalen Gruppen leichter fällt, ihren Wahrheitsmythos als Gewissheit darzustellen.

Vorurteile, Klischees, Feindbilder und rassistische Ideologien sorgen für falsche Gewissheiten. Wenn Gegenmodelle von Solidarität, Toleranz, Zusammenhalt und Gemeinschaftssinn die Wahrnehmung von Bedrohungen bremsen, können sie verhindert werden. Aber es ist gerade dann schwierig, wenn diejenigen, die solche Modelle vorschlagen, bereits als Feinde inszeniert sind: korrupte Eliten, Volksfeinde, Fremde und so weiter.

Das Problem ist also, dass das Land wie andere Länder in eine Krise gerät, die von hoher nationaler Popularität und einem feindseligen Image geprägt ist, und es gibt schwer erreichbare Parallelgemeinschaften. Besondere Anstrengungen sind erforderlich, um Hass und feindselige Bilder zu verhindern und dagegen vorzugehen, sowie eine bessere Kommunikation darüber, warum Krisen das Land durch Erniedrigung, Diskriminierung und Hassverbrechen weiter destabilisieren.

tagesschau. de: Vor allem in Ostdeutschland kommt es jetzt zu großen Protesten und Anfeindungen. Wie erklären Sie sich den Unterschied zum Westen?

Zick: Radikale Kulturen konnten sich im Osten über die Jahre stärker entwickeln – obwohl das alles kein ostdeutsches Problem ist. Die Gründe sind sehr vielfältig. Allerdings zeichnet sich ab, dass sich Rechtsextremisten in der Demo leichter mit der Mitte arrangieren. Es zeigt sich, dass rechte Gruppierungen problemlos an die historischen Erinnerungen an den Mauerfall anknüpfen können, dass sich auch Rechtsdemokraten die Zeichen und Symbole der Friedensbewegung aneignen können. Hinzu kommt die Erinnerung an den Zusammenbruch der DDR – mit der Erfahrung der Opfer und dem Image, Bürger zweiter Klasse zu sein. Die Kampagne „We First“ funktioniert gut.

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Unsere Daten zeigen, dass fundamentalistische und extremistische Gruppen zwar schon seit langem etabliert sind, die Menschen aber denken, dass diese Gruppen oder Parteien genau wie alle anderen sind. Die allgemeine Situation hat sich geändert.

tagesschau. de: SPD-Präsident Saskia Esken wirft CDU-Chef Friedrich Merz vor, “Sozialtourismus” mitverantwortlich zu machen für Äußerungen von “Hass und Hetze, die später zu Gewalt führen”. Welche Rolle spielen die Worte der Politiker?

Zick: Stereotype und voreingenommene Äußerungen von Politikern gelangen schnell in die sozialen Medien und werden dort verwendet, um radikale Kommunikation und Kampagnen anzuregen. Die Politik muss das bedenken, und am Ende hilft es nichts, wenn sie sagen, das sei nicht so gemeint.

Das Bild steht in einer Tradition und lässt sich daher gut in Geschichten über „Sozialschmarotzer“ oder ähnliches einbinden. Der einfache Zusammenhang, dass solche stereotypen Bilder zu Gewalt führen, ist im politischen Diskurs verständlich, funktioniert aber so nicht. Gewalt kommt nur dann vor, wenn Gruppen dies gezielt zum Anlass nehmen, zu Gewalt aufzurufen. Gerade in Krisenzeiten ist mehr Sensibilität bei der Frage gefragt, ob bestimmte Gruppen hervorgehoben werden oder nicht.

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tagesschau. de: Auch 2015 war der Hilfswille zunächst überwältigend. Später änderte sich die Atmosphäre mancherorts. Es gab eine Welle von Angriffen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte. Welche Lehren können aus der Situation nach 2015 gezogen werden?

Zick: Es wäre schön gewesen, mehr daraus zu lernen. Denn die Kriminalstatistik zeigt, dass ideologisch motivierte Straftaten wieder zunehmen; Das während der Pandemie geformte Feld der Ideologien lässt sich übrigens nicht genau oder einfach benennen. Dazu gehören konspirative Milieus, mittlere Milieus, die sich als rebellische, aggressive „Querdenker“-Gruppen verstehen, und viele andere, die sich als Anführer des Widerstands gegen Staat und Eliten fühlen.

Als hilfreich erweisen sich Hass- und Gewaltprävention, lokale Konfliktbearbeitung, dezentrale Wohnformen und Unterkünfte, ehrenamtliches Engagement und smarte Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Kommunen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass wir mehr in die politische Bildung investieren können. Solidarität, Toleranz, Gemeinschaftssinn und Miteinander sind Dinge, die Generationen immer wieder neu lernen können. Es fällt nicht einfach vom Himmel und materialisiert sich, weil wir in einer Demokratie dazu gezwungen werden. Wenn Menschen ihre Würde verlieren und in bestimmte Orte eindringen, müssen diese Orte menschenwürdig wieder aufgebaut werden.

Das Interview führte Konstantin Kumpfmüller, tagesschau.de

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